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Karl Kraus
(1874-1936)
Das arme Leben
Tust du nicht unrecht diesen Freuden?
Verbergen sie nicht Gram und Qual?
Verzittert nicht das tiefste Leiden
in einem Tränenbach-Kanal?
Hat doch der Glaube sie zum Narren,
daß jeder Schritt ins Freie drängt,
wenn sie in diese Enge starren,
die sich nur immer mehr verengt.
Bange macht jedem jede Stunde,
die von ihm abnimmt Stück für Stück,
und jeder zieht mit einer Wunde
in sein Verhängnis sich zurück.
Wer fühlt das Leben nicht vertropfen
und wie es in den Tod verfällt!
Sie hören ihre Herzen klopfen,
und eben darum lärmt die Welt.
Jeglicher Blick verkürzt das Dauern
von der bemessnen Wartezeit,
und jeder Atemzug ist Schauern,
und jeder Gang ein Grabgeleit.
Wenn sie verrucht den andern nahmen
den zugeteilten Henkerschmaus,
es hat zum vorbestimmten Amen
der vollste Magen nichts voraus.
Heben vergebens ihre Hände,
eh sie vereint das letzte Band.
Sie reichen alle doch am Ende
einander ihre Totenhand.
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Karl Kraus
(1874-1936)
Der Erotiker
Fiel ihm ein Liebesglück in seinen Schoß,
so war er im Erlebnis gar nicht tüchtig;
und nie genoß er es in vollen Zügen,
wenn es gelang, den Gatten zu betrügen.
Der Glückliche, er war ja ahnungslos –
dagegen jener für ihn eifersüchtig.
Oft hat er, wenn sonst alles hätt’ geklappt,
die Frau beim Ehebruch mit sich ertappt,
und den Beweis hielt er in seinen Armen.
Hier half kein Leugnen. Da er’s selbst gesehn,
und seine Liebe kannte kein Erbarmen.
1920
Karl Kraus poetry
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Georg Trakl
(1887-1914)
Psalm
Karl Kraus zugeeignet
Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
Die Männer führen kriegerische Tänze auf.
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.
Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen.
Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an.
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters,
Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut!
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten.
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen.
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende.
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf.
Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen.
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen.
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach.
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab.
Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen.
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher.
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels.
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee,
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden.
Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt.
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen.
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer.
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln.
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit.
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.
Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.
Georg Trakl poetry
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Karl Kraus
(1874-1936)
Dichterschule
Was sind denn das für ausgelassne Knaben,
die in der Form ein Nichtgenügend haben?
Sie machen heute sichs wie ehedem
in Fleiß und Sitten immerzu bequem,
die nur im Fortgang von der Schule glänzen.
Und froh, daß sie die Syntax nicht beherrschen,
so wetzen sie auf ungegerbten Ärschen
und lassen hier und dort das Komma aus.
Dann aber tragen sie ein Nichts nachhaus,
das sie zuhaus zu einem Dreck ergänzen.
Heißt man zur Strafe sie dada zu bleiben,
und ihren Aufsatz zweimal abzuschreiben,
und besten Falles fällt es ihnen ein,
daß sie ihn noch beklecksen und betrenzen.
Kein Substantiv steht mehr an seinem Platze,
der Hauptsatz wird zu einem Nebensatze,
der Nebensatz ist nur ein Adjektiv.
Die ganze Gottesschöpfung lacht sich schief,
wenn solch ein grüner Lümmel singt von Lenzen.
Hier wirkt Natur in andern Dimensionen,
in solchem Wirrsal wollt’ kein Teufel wohnen,
nichts was sie greifen, wächst zur Wortgestalt.
Allein ihr Ethos freilich ist geballt
und sehr dynamisch sind die Impotenzen.
Ein Rattenschwanz im gegenseitigen Loben,
wenn sie in allezu freien Rhythmen toben;
mit uns geht alles bei dem Treiben rund!
Doch schließen sie zumeist den Vers mit Und.
Und dennoch geht es über alle Grenzen.
Sehr mir die Rotte von den letzten Bänken,
sie wollen nur den Oberlehrer kränken,
der schwergeprügelt in solcher Klasse sitzt.
Was sie nicht konnten, haben sie verschwitz.
O laßt uns diese Dichterschule schwänzen!
1920
Karl Kraus poetry
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Karl Kraus
(1874-1936)
Der sterbende Soldat
Hauptmann, hol her das Standgericht!
Ich sterb’ für keinen Kaiser nicht!
Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht!
Bin tot ich, salutier’ ich nicht!
Wenn ich bei meinem Herren wohn’,
ist unter mir des Kaisers Thron,
und hab’ für sein Geheiß nur Hohn!
Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.
Wenn ich in meinem Herrn entschlief,
kommt an mein letzter Feldpostbrief.
Es rief, es rief, es rief, es rief!
Oh, wie ist meine Liebe tief!
Hauptmann, du bist nicht bei Verstand,
daß du mich hast hierher gesandt.
Im Feuer ist mein Herz verbrannt.
Ich sterbe für kein Vaterland!
Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht!
Seht, wie der Tod die Fessel bricht!
So stellt den Tod vors Standgericht!
Ich sterb’, doch für den Kaiser nicht.
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Karl Kraus
(1874-1936)
Die Freiheit, die ich nicht meine
Die Freiheit, die möcht’ ich echt haben,
drum möcht’ ich sie früher befrein
von solchen, die zwar recht haben,
doch ohne berechtigt zu sein.
Denn die, deren die sich erfrecht haben,
ist die Freiheit nicht, die ich mein’!
1925
Karl Kraus poetry
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Karl Kraus
(1874 -1936)
In diesem Land
In diesem Land wird niemand lächerlich,
als der die Wahrheit sagte. Völig wehrlos
zieht er den grinsend flachen Hohn auf sich.
Nichts macht in diesem Lande ehrlos.
In diesem Land münzt jede Schlechtigkeit,
die anderswo der Haft verfallen wäre,
das purste Gold und wirkt ein Würdenkleid
und scheffelt immer neue Ehre.
In diesem Land gehst du durch ein Spalier
von Beutelschneidern, die dich tief verachten
und mindestens nach deinem Beutel dir,
wenn nicht nach deinem Gruße trachten.
In diesem Land schließt du dich nicht aus,
fliehst du gleich ängstlich die verseuchten Räume.
Es kommt die Pest dir auch per Post ins Haus
und sie erwürgt dir deine Träume.
In diesem Land triffst du in leer Luft,
willst treffen du die ausgefeimte Bande,
und es begrinst gemütlich jeder Schuft
als Landsmann dich in diesem Lande.
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