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Alfred Lichtenstein
(1889-1914)
Der Athlet
Einer ging in zerrissenen Hausschuhen
Hin und her durch das kleine Zimmer,
Das er bewohnte.
Er sann über die Geschehnisse,
Von denen in dem Abendblatt berichtet war.
Und gähnte traurig, wie nur jemand gähnt,
Der viel und Seltsames gelesen hat –
Und der Gedanke überkam ihn plötzlich,
Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut
Und wie das Aufstoßen den Übersättigten,
Wie Mutterwehen:
Das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,
Ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen.
Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.
Und also fing er an, sich zu entkleiden …
Als er ganz nackt war, hantelte er etwas.
Alfred Lichtenstein poetry
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Alfred Lichtenstein
(1889-1914)
Die Nacht
Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen.
Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen.
An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen,
Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen.
Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder,
Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen.
Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen …
Wehleidge Kater schreien schmerzhaft helle Lieder. [?
Ein Generalleutnant singt
Ich bin der Herr Divisionskommandeur,
Seine Exzellenz.
Ich habe erreicht, was menschenmöglich ist.
Een schönes Bewustsein.
Vor mir beugen das Knie
Hauptleute und Regimentschefs,
Und meine Herren Generäle
Horchen auf meinen Befehl.
Wenn Gott will, beherrsche ich nächstens
Ein ganzes Armeekorps, nächstens.
Frauen, Theater, Musik
Interessieren mich wenig.
Was ist das alles gegen
Parademärsche, Gefechte.
Wäre doch endlich ein Krieg
Mit blutigen, brüllende Winden.
Das gewöhnliche Leben
Hat für mich keine Reize.
Abschied
Wohl war ganz schön, ein Jahr Soldat zu sein.
Doch schöner ist, sich wieder frei zu fühlen.
Es gab genug Verkommenheit und Pein
In diesen unbarmherzgen Menschenmühlen.
Sergeanten, Bretterwände, lebet wohl.
Lebt wohl, Kantinen, Marschkolonnenlieder.
Leichtherzig las zich Stadt und Kapitol.
Der Kuno geht, der Kuno kommt nicht wieder.
Nun, Schicksal, treib mich, wohin der gefällt.
Ich zerre nicht an meiner Zukünft Hüllen.
Ich hebe meine Augen in die Weit.
Ein Wind fängt an. Lokomotiven brüllen.
Abschied
(kurz vor der Abfahrt zum Kriegsschauplatz).
Vorm Sterben mache ich noch mein Gedicht.
Still Kameraden, stört mich nicht.
Wir ziehn zum Krieg. Der Tod ist unser Kitt.
Oh; heult mir doch die Geliebte nit.-
Was liegt an mir. Ich gehe gerne ein.
Die Mutter weint. Man musz aus Eisen sein.
Die Sonne fällt zum Horizont hinab.
Bald wirft man mich ins milde Massengrab.
Am Himmel brennt das brave Abendrot
Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.
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