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Lied der Einsamkeit
Sie wölbt um meine Seele Kathedralen,
Sie schäumt um mich ein brandend Meer,
Der Gosse sperrt sie sich wie eine Wehr,
Und wie ein Wall beschützt sie meine Qualen.
In ihr fühl ich die Süße abendlicher Stille,
Auf leeren Stunden blüht sie sanftes Feld,
Ihr Schoß gebiert das Wunder der geahnten Welt,
Ein stählern Schwert steilt sich metallner Wille.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Lied der Einsamkeit
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Ein Gefangener reicht dem Tod die Hand
Erst hörte man den Schrei der armen Kreatur.
Dann poltern Flüche durch die aufgescheuchten Gänge,
Sirenen singen die Alarmgesänge,
In allen Zellen tickt die Totenuhr.
Was trieb dich, Freund, dem Tod die Hand zu reichen?
Das Wimmern der Gepeitschten? Die geschluchzten Hungerklagen?
Die Jahre, die wie Leichenratten unsern Leib zernagen?
Die ruhelosen Schritte, die zu unsern Häuptern schleichen?
Trieb dich der stumme Hohn der leidverfilzten Wände,
Der wie ein Nachtmahr unsre Brust bedrückt?
Wir wissen’s nicht. Wir wissen nur, daß Menschenhände
Einander wehe tun. Daß keine Hilfebrücke überbrückt
Die Ströme Ich und Du. Daß wir den Weg verlieren
Im Dunkel dieses Hauses. Daß wir frieren.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Ein Gefangener reicht dem Tod die Hand
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Schwangeres Mädchen
Du schreitest wunderbar in mittaglicher Stunde,
Um Deine Brüste rauscht der reife Wind,
Ein Lichtbach über Deinen Nacken rinnt,
Der Sommer blüht auf Deinem Munde.
Du bist ein Wunderkelch der gnadenreichen
Empfängnis liebestrunkner Nacht,
Du bist von Lerchenliedern überdacht,
Und Deine Last ist köstlich ohnegleichen.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Schwangeres Mädchen
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Den Toten der Revolution
Todgeweihte Leiber
trotzig gestemmt
Wider den Bund
der rohen Bedränger,
Löschte Euch Schicksal
mit dunkler Gebärde.
Wer die Pfade bereitet,
stirbt an der Schwelle,
Doch es neigt sich vor ihm
in Ehrfurcht der Tod.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Den Toten der Revolution
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Nacht
Zinnoberroter Traum emporreißt unterdrückte Lust,
Die wandgeketteten verdammten Pritschen stöhnen,
O, nun auftauchen Bilder, die den kahlen Raum verschönen,
Der Dämon wühlt in unsrer Brust.
Erwachend höhnen, Kupplerinnen, uns die Eisengitter,
Im Morgengrauen sind die Zellen wie verweinte Mütter.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Nacht
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Begegnung in der Zelle
Die Dinge, die erst feindlich zu dir schauen,
Als wären sie in Späherdienst gezwängte Schergen,
Sie laden dich zu Fahrten ein gleich guten Fergen,
Und hegen dich wie schwesterliche Frauen.
Es nähern sich dir all die kargen Dinge:
Die schmale Pritsche kommt, die blauen Wasserkrüge,
Der Schemel flüstert, daß er gern dich trüge,
Die Wintermücken wiegen sich wie kleine Schmetterlinge.
Und auch das Gitterfenster kommt, das du verloren,
Mit Augen, die sich an den schwarzen Stäben stachen,
Anstarrtest, während deine Arme hilflos brachen,
Und Köpfe der Erschoßnen wuchsen aus versperrten Toren.
Das Gitterfenster ruft: Nun, Lieber, schaue, schaue,
Wie ich aus Wolken dir ein Paradies erbaue.
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Begegnung in der Zelle
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