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Der Kuss
Du kamst des Wegs, durch den ich viel gelitten,
Du kamst, dem viel ich habe abzubitten,
Du Freund, du Feind, der über meinen Schritten
Einst herrschend hielt den Stab.
War’s Tag, war’s Traum? Die Stadt lag fremd im Lichte,
Von Wind durchbellt. Du schwanktest ohne Richte.
So blind! So grau! Ich las dir vom Gesichte
Das Grab, das fahle Grab.
Den ich vor wenig Wochen hier verlassen
Auf diesen Plätzen und in diesen Gassen,
Das war der Mann nicht mehr, stark und gelassen,
Den jetzt ich wankend traf.
Du sprachst zu mir. Ich hörte Worte fallen,
Sie schollen traurig und wie hohles Hallen.
Nicht Worte waren das, es war das Lallen,
Das trunkne, vor dem Schlaf.
In Weh und Scham von dir ich wollte weichen.
Du hobst die Hand, sie still mir herzureichen.
Da faßte mich ein Abschied ohnegleichen,
Daß Scham und Weh zerrann,
Und was sich niemals zwischen uns begeben:
Ein tiefer Kuß vereinte unser Leben,
Den noch kein Weib empfing, ein Kuß, so bebend,
Der Kuß von Mann zu Mann.
Nun kann ich nicht die Tür des Wachens finden.
Ich will den Traum des Kusses überwinden,
Verbergen mich, im Menschentag verschwinden,
Doch das Geheimnis brennt.
Ich fühl mich sprechen, lachen, schreiben, kramen.
Mein Herz ist schwarz geschluchzt, ach, und der Samen
Der fremden Liebe wächst, die keinen Namen
Und kein Geständnis kennt.
Franz Werfel
(1890 – 1945)
Der Kuss
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