Ernst Stadler: Aus der Dämmerung
Ernst Stadler
(1883-1914)
Aus der Dämmerung
In Kapellen mit schrägen Gewölben· zerfallnen Verließen
und Scheiben flammrot wie Mohn und wie Perlen grün
und Marmoraltären über verwitterten Fliesen
sah ich die Nächte wie goldne Gewässer verblühn:
der schlaffe Rauch zerstäubt aus geschwungnen Fialen
hing noch wie Nebel schwankend in starrender Luft·
auf Scharlachgewirken die bernsteinschillernden Schalen
schwammen wie Meergrundwunder im bläulichen Duft.
In dämmrigen Nischen die alten süßen Madonnen
lächelten müd und wonnig aus goldrundem Schein.
Rieselnde Träume hielten mich rankend umsponnen·
säuselnde Lieder sangen mich selig ein.
Des wirbelnden Frühlings leise girrendes Locken·
der Sommernächte Duftrausch weckte mich nicht:
Blaß aus Fernen läuteten weiße Glocken . .
Grün aus Kuppeln sickerte goldiges Licht . .
1904
Ernst Stadler poetry
kempis.nl poetry magazine
More in: Archive S-T, Stadler, Ernst