Gertrud Kolmar: Verlorenes Lied
Verlorenes Lied
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als lange Haare –
Bin zweiundzwanzig Jahre –
Sind rotes Gold, meine Haare,
Sagen die Kaufleut’ mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als gemalte Brauen –
Fluch den ehrbaren Frauen! –
Sind tintenschwarz, meine Brauen,
Sagen die Schreiber mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als kecke Blicke –
Weißt du, wem ich sie schicke ? –
Sind scharfes Schrot, meine Blicke,
Sagen die Jäger mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als reife Lippen –
Tugend fährt über Klippen –
Sind kirschensüß, meine Lippen,
Sagen die Gärtner mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als geschmeidige Sohlen –
Ei, in der Schenke das Johlen! –
Sind zum Tanzen gemacht, meine Sohlen,
Sagen die Spielleut’ mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als weiße Glieder –
Blankes Gold lockert mein Mieder –
Sind Flammen der Lust, meine Glieder,
Sagst heute nacht du mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als ein Leben in Schande,
Einen Tod am Straßenrande –
Einst in zerlumptem Gewande
Scharrt man mich ein im Sande.
Wo ? Sagt keiner mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als die heimliche Zähre –
Daß ich so arm nicht wäre! –
Nur meine Dirnenehre!
Vom Strauch fällt die tausendste Beere;
Fault sie, wer sucht nach ihr ?
Sterb’ ich, wer weint nach mir?
Gertrud Kolmar
(1894 – 1943)
Verlorenes Lied
•fleursdumal.nl magazine
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