Gertrud Kolmar: Komm
Komm
O komm.
Du amethystenes Gewölbe großer Nacht.
O komm.
Du goldgestickte Decke über süßen Broten.
O komm.
Sternsamen, aus dem himmlischen Getreide rieselnd sacht.
O komm.
Du kupferdunkle Schlange, die mit Lebensgeifer spritzt die Toten.
O komm.
Du überm Alltag schwebende, verzückte Melodie,
O komm.
Ich möchte einmal dich mit Lippen fassen, eh ich sterbe.
O komm.
Du meine braune Rose. Solche gab es nie.
O komm.
Du samtner Taumund voll unsäglich süßer Herbe.
O komm.
Grau riesenhafter Turm, der in die Öden floh.
O komm.
Ich duck mit Schleierkäuzen mich am Fenster ohne Scheibe.
O komm.
Du steinernes Gesetz, das bröckelnd stürzte irgendwo.
O komm.
Ich richte die geborstne Tafel auf an finstrer Eibe.
O komm.
Du Zauberspange, die der unverstandne Spruch durchflicht.
O komm.
Mein Haupt in Ruhe, meine Stirn in Schlaf zu schließen.
O komm.
Du blauer Brunnen, der aus jeder Blume eine schöne Iris bricht.
O komm.
Du Regenbogenweinen, grasgesäumtes Fließen.
O komm.
Mein Kind. O komm, o komm, du Kind.
O komm.
Mein hohler Paukenschlag kann mich nicht mehr betäuben.
O komm.
Und willst du nicht, so nimm mich in den Wind.
O komm.
Und laß mich überm Meere, Ockersand, verstäuben.
Gertrud Kolmar
(1894-1943)
gedicht: Komm
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