Joseph Roth: Tod im Frühling
Tod im Frühling
Ein Professor, fromm und tugendhaft,
war exorbitant normal im Winter;
zur Erhaltung deutscher Manneskraft
schlief er stets mit einem Werk von Dinter;
morgens steckte er ins Stahlbad Glied um Glied,
trieb am Reck dann Weltkriegsvorbereitung,
und, fürs arisch-reine Vaterland erglüht,
abonnierte er die »Deutsche Zeitung«.
Also lebte er zur Winterszeit. –
Doch beim ersten Lied der Nachtigallen
machte er sein Teleskop bereit,
um des Nachts durch das Gebüsch zu wallen;
Minne glühte auch in seiner Brust,
wenn er eine Wade wo erblickte;
und es war sein Wille groß wie seine Lust – –
nur, daß letztere ihm niemals glückte.
Mit der Blendlaterne spähte er
nach den unverschämten Gartenbänken,
zu den deutschen Göttern flehte er,
dieses Mobiliar der Juden zu versenken;
aber Unzucht blieb, kein Rächer kam,
und vergebens betete der Keusche,
während er, moral-geplagt, vernahm
außereheliche Nachtgeräusche.
Bald begannen Nase, Aug’ und Ohr
und der sechste Sinn sich auch zu schämen – –
außer sich geriet der Professor,
und er mußte endlich Anstoß nehmen;
unter einem weißen Fliederstrauch
tat er’s, ward erregt – und fand sein Ende . . .
Streng und sittlich flog sein letzter Hauch
wie ein keuscher Fluch durch das Gelände . . .
Joseph Roth
(1894 – 1939)
Tod im Frühling
Lachen links – 9. 5· 1924
• fleursdumal.nl magazine
More in: Archive Q-R, Archive Q-R, Joseph Roth, Natural history