Carmen Sylva: Von Liebe (Gedicht)
Von Liebe
Am Abend sprach das Meer und flüsterte:
Ihr schönen Mägdelein, erzählt mir leise,
Ich will die Liebe wissen! Redet mir
So von der Liebe, gleich als sollte ich
Dran sterben, so als müsst’ in Ruhe ich
Versinken dran, als könnte sie vorm Sturme
Mich schützen, dass so wütend er nicht mehr
Auf mich sich stürzte! – O! so sprachen da
Die Mägdelein, – Wir wissen wahrlich nicht,
Du armes Meer, ob wir erzählen dürfen;
Denn nimmermehr würdst du in wilder Kraft
Die Schiffe schleudern wollen, und der Felsen
Sorgenumwölbte Stirn mit Schaume peitschen,
Noch wälzen unter jähe, grüne Klippen
Der Sterne Blicken. Glaub’ uns Meer, Du wolltest
So mächtig nimmer sein, so scheu und spröde,
In deinen Schoß und in dein Herz nicht mehr
Die schlafumfangnen Menschenherzen saugen.
Du würdest dann gleich uns den Himmel ansehn,
Und ihn nicht sehen, lächeln, wie der Wind
Vorüberweht, und weinen, weil die Sonne
Aufgeht! Nein! wir werden nichts erzählen!
Carmen Sylva
(1843-1916)
Von Liebe
Gedicht
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