STEFAN ZWEIG: DIE NACHT DER GNADEN
Stefan Zweig
(1881-1942)
Die Nacht der Gnaden
Ein Reigen Sonette
I.
Ein schwarzer Flor umkränzte die Gelände.
Wie Boote segelten am Himmelsmeer
Die letzten lauen Abendwolken her
Und gossen Schattenschleier um die Wände.
Das Zimmer dunkelte. Die heißen Hände
Der beiden lagen willenlos und schwer
In ihrem Schoß und suchten sich nicht mehr.
Die leeren Worte waren längst zu Ende.
Sie bebten beide. Und ein Schweigen kam
Mit banger Schwüle. Er hielt sie umfangen
Und flehte ohne Wort: “Sei mein! Sei mein!”
Sie zitterte. Die Blüte junger Scham
Wuchs purpurn über ihre blassen Wangen,
Und Tränen stammelten: “Es darf nicht sein.”
II.
Da ließ er sie: “Ich will dich nicht betören.
Sei du nur mein, wenn du es längst schon bist.
Nicht eine Gabe sollst du mir gewähren,
Gib mir nur das, was lang mein eigen ist.
Sei mein, so wie sich mit den Sternenchören
Der Himmel flutend in die Nacht ergießt,
Und Seligkeiten werden uns gehören,
Durch die der Strom der Ewigkeiten fließt.
Willst du den Kelch der Sünde nicht nur nippen
Und ganz dein Sein an eine Nacht verschwenden,
So wird bis an die Grenze deiner Tage
Ein Leuchten sprühn von ungeahnten Bränden
Aus dieser Nacht!” – Wie eine bange Klage
Umfing ein zartes Lächeln ihre Lippen:
III.
“Was alle andern Schmach und Sünde nennen,
Wär mir ein Pfad zu lichten Seligkeiten,
Wenn nur auf meinem Mund, dem schmerzgeweihten,
Die roten Male deiner Küsse brennen.
Doch du bist Horcher in die Ewigkeiten,
Von denen mich die dunklen Wolken trennen.
Mich ließ nur Sehnsucht meine Jugend kennen
Und nicht die Träume, die zum Lichte leiten.
Drum will ich mich nicht deinem Willen senken,
Ob auch ein jeder Puls in meinen Gliedern
Mit seiner Sehnsucht dir schon angehört.
Ich bin zu arm, dir Liebe zu erwidern,
Und bin zu stolz, um Armut zu verschenken,
Denn sieh: Ich weiß, ich bin nicht deiner wert!”
IV.
Da sprach er sanft – und wie von Orgeldröhnen
War seine Stimme wundersam bewegt -:
“Wer so wie du den Glanz der Güte trägt,
Ist auserwählt, ein Leben licht zu krönen.
Oh fühlst du nicht, wie in verwandten Tönen
In uns der rasche Takt des Blutes schlägt
Und wilde Flamme in der Tiefe regt,
Um sich in unserm Einklang zu versöhnen?
Ich glüh in dir, du glühst in meinem Leben,
Zu neuer Einheit drängt dein junger Schoß
Und will den Ewigkeiten sich vermählen.
Sei mein! Erst wenn uns übermächtig groß
Die Schauer eigner Schöpfungslust durchbeben,
Rauscht eine Welt in unsern freien Seelen.”
V.
So sprach er glühend. Und sie beide standen
Im Bann des Blutes, wortlos wie verzagte
Verlorne Pilger nah den lichten Landen,
Wo schon das Frührot der Erfüllung tagte.
Dann kam ein Seufzen … als ob Weinen klagte …
Ein Knistern wie von sinkenden Gewanden …
Ein banger Ruf … Und als sein Auge fragte,
Ob sie der Sehnsucht wildes Wort verstanden,
Ward jählings Glanz in seinen Blick getragen,
Wie Glanz von Firnen … Aus dem Dunkel blühte
Gleich einer Lilie schlank und nackt ihr Leib.
Da schwieg sein Herz. Er wußte nicht zu sagen,
Wie ein Gebet durchdrang ihn ihre Güte,
Und diese Nacht ward sie ihm Gott und Weib.
VI.
Ihm aber war in dieser Nacht der Gnaden,
Als fühlte er die Welt zum erstenmal.
Er sah die Sterne auf beglänzten Pfaden
Wie Boten wandeln durch den Himmelssaal,
Sah weit das Leuchten über den Gestaden,
Der Morgenröte purpurblassen Strahl,
Fühlte die Winde, wie sie duftbeladen
Sich wiegten in den Wipfeln ohne Zahl,
Sah Frucht und Blüte über den Geländen
Und Saat und Segen. Erst in dieser Nacht
Ward ihm das Wunder aller Schöpfung wahr.
Und wie ein Kind, das in die Welt erwacht,
Nahm er aus diesen milden Frauenhänden
Die neue Pracht, die längst sein eigen war.
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