Joseph Roth: Lied des Todes
Lied des Todes
Alles Leben ist Lüge,
Wahr bin nur ich allein,
Finde nun, Herz, Dein Genüge,
Schlafe, schlafe nun ein.
Ich war Dein erster Begleiter
Und werde Dein letzter sein,
Die Menschen eilten weiter,
Ich liess dich nie allein.
Sie alle kränkten dich stets aufs neu,
Ich stand nur still beiseite,
Sie gingen alle, ich blieb treu,
Ergib Dich mir nun heute.
Lieb mich und meine sanfte Macht,
Du bist mir ja bestimmt.
Das Leben hat dich müd gemacht,
Schlaf ein, schlaf ein, mein Kind.
Ich und Deine Mutter lauschten
Deines Herzens erstem Schlag,
Blut und Blut zusammenrauschten,
Herz an Herz gebettet lag.
Sie war Anfang, ich bin Ende
Und dazwischen littest Du.
Gib Dich nun in meine Hände,
Finde, Seele, Deine Ruh.
Joseph Roth
(1894 – 1939)
Lied des Todes
• fleursdumal.nl magazine
More in: Archive Q-R, Archive Q-R, Joseph Roth