Joseph Roth, Gedicht: Karneval
Karneval
Alle Tage feiern wir Karneval,
wir haben es nicht nötig, uns eigens zu maskieren,
weil wir unser eigenes Angesicht verlieren;
wir sind: ein Untertan, ein Sergeant, ein General,
ein deutscher Student mit Bändern und Schmissen,
eine Pickelhaube, ein geschliffenes Bajonett,
ein schleppender Säbel, ein Pastorenbarett,
und eine Prothese, ewig zu hinken beflissen.
Wir sind ein Volk in Masken und Kostümen –
uns schuf ein göttlicher Feldwebel nach seinem Ebenbilde.
Wir sind ein Unteroffiziersverein, eine Millionenmaskengilde,
eine Schupopostenkette, ein fast lebendiger Drahtverhau,
ein betäubender Wirrwar aus Uniformgrau,
unterbrochen von reizenden roten Striemen . . .
Also gekleidet in verschiedene Trachten,
leben wir munter, schießen und bedienen
bald einen Kaiser und bald ein Maschinengewehr – –
Kriege verlierend, gewinnen wir Schlachten,
arbeiten nach dem Lesebuchmuster der Bienen
vierundzwanzig Stunden im Tage und manchmal mehr.
Über uns ein Gott, der Eisen wachsen läßt,
auf einem gelbmaskierten Himmel aus giftigen Gasen,
umgeben von Engeln, die den Fridericus-Rex-Marsch blasen – –
mit eisernen Kreuzen geziert, livriert und betreßt,
nehmen sie teil an unserm Karnevalsfest.
Und ertönt ein Kommando, das ein oberster Kriegsherr rief,
so können wir nicht anders und werden erschossen,
insofern wir Proleten, Juden und Genossen – –
Und flüstern sterbend, dankerfüllt und tief:
Ehre sei dem General in der Höh’ und Kants kategorischem Imperativ!
Joseph Roth
(1894 – 1939)
Karneval
Gedicht, 7. 3· I924
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