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Rainer Maria Rilke: Requiem. Für eine Freundin

R a i n e r   M a r i a   R i l k e

(1875-1926)

  

R e q u i e m

Für eine Freundin


Ich habe Tote, und ich ließ sie hin

und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,

so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,

so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst

zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst

an etwas stoßen, daß es klingt von dir

und dich verrät. O nimm mir nicht, was ich

langsam erlern. Ich habe recht; du irrst

wenn du gerührt zu irgend einem Ding

ein Heimweh hast. Wir wandeln dieses um;

es ist nicht hier, wir spiegeln es herein

aus unserm Sein, sobald wir es erkennen.


Ich glaubte dich viel weiter. Mich verwirrts,

daß du gerade irrst und kommst, die mehr

verwandelt hat als irgend eine Frau.

Daß wir erschraken, da du starbst, nein, daß

dein starker Tod uns dunkel unterbrach,

das Bisdahin abreißend vom Seither:

das geht uns an; das einzuordnen wird

die Arbeit sein, die wir mit allem tun.

Doch daß du selbst erschrakst und auch noch jetzt

den Schrecken hast, wo Schrecken nicht mehr gilt;

daß du von deiner Ewigkeit ein Stück

verlierst und hier hereintrittst, Freundin, hier,

wo alles noch nicht ist; daß du zerstreut,

zum ersten Mal im All zerstreut und halb,

den Aufgang der unendlichen Naturen

nicht so ergriffst wie hier ein jedes Ding;

daß aus dem Kreislauf, der dich schon empfing,

die stumme Schwerkraft irgend einer Unruh

dich niederzieht zur abgezählten Zeit – :

dies weckt mich nachts oft wie ein Dieb, der einbricht.

Und dürft ich sagen, daß du nur geruhst,

daß du aus Großmut kommst, aus Überfülle,

weil du so sicher bist, so in dir selbst,

daß du herumgehst wie ein Kind, nicht bange

vor Örtern, wo man einem etwas tut – :

doch nein: du bittest. Dieses geht mir so

bis ins Gebein und querrt wie eine Säge.

Ein Vorwurf, den du trügest als Gespenst,

nachtrügest mir, wenn ich mich nachts zurückzieh

in meine Lunge, in die Eingeweide,

in meines Herzens letzte ärmste Kammer,

ein solcher Vorwurf wäre nicht so grausam,

wie dieses Bitten ist. Was bittest du?


Sag, soll ich reisen? Hast du irgendwo

ein Ding zurückgelassen, das sich quält

und das dir nachwill? Soll ich in ein Land,

das du nicht sahst, obwohl es dir verwandt

war wie die andre Hälfte deiner Sinne?


Ich will auf seinen Flüssen fahren, will

an Land gehn und nach alten Sitten fragen,

will mit den Frauen in den Türen sprechen

und zusehn, wenn sie ihre Kinder rufen.

Ich will mir merken, wie sie dort die Landschaft

umnehmen draußen bei der alten Arbeit

der Wiesen und der Felder; will begehren,

vor ihren König hingeführt zu sein,

und will die Priester durch Bestechung reizen,

daß sie mich legen vor das stärkste Standbild

und fortgehn und die Tempeltore schließen.

Dann aber will ich, wenn ich vieles weiß,

einfach die Tiere anschaun, daß ein Etwas

von ihrer Wendung mir in die Gelenke

herübergleitet; will ein kurzes Dasein

in ihren Augen haben, die mich halten

und langsam lassen, ruhig, ohne Urteil.

Ich will mir von den Gärtnern viele Blumen

hersagen lassen, daß ich in den Scherben

der schönen Eigennamen einen Rest

herüberbringe von den hundert Düften.

Und Früchte will ich kaufen, Früchte, drin

das Land noch einmal ist, bis an den Himmel.


Denn Das verstandest du: die vollen Früchte.

Die legtest du auf Schalen vor dich hin

und wogst mit Farben ihre Schwere auf.

Und so wie Früchte sahst du auch die Fraun

und sahst die Kinder so, von innen her

getrieben in die Formen ihres Daseins.

Und sahst dich selbst zuletzt wie eine Frucht,

nahmst dich heraus aus deinen Kleidern, trugst

dich vor den Spiegel, ließest dich hinein

bis auf dein Schauen; das blieb groß davor

und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.

So ohne Neugier war zuletzt dein Schaun

und so besitzlos, von so wahrer Armut,

daß es dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.


So will ich dich behalten, wie du dich

hinstelltest in den Spiegel, tief hinein

und fort von allem. Warum kommst du anders?

Was widerrufst du dich? Was willst du mir

einreden, daß in jenen Bernsteinkugeln

um deinen Hals noch etwas Schwere war

von jener Schwere, wie sie nie im Jenseits

beruhigter Bilder ist; was zeigst du mir

in deiner Haltung eine böse Ahnung;

was heißt dich die Konturen deines Leibes

auslegen wie die Linien einer Hand,

daß ich sie nicht mehr sehn kann ohne Schicksal?


Komm her ins Kerzenlicht. Ich bin nicht bang,

die Toten anzuschauen. Wenn sie kommen,

so haben sie ein Recht, in unserm Blick

sich aufzuhalten, wie die andern Dinge.


Komm her; wir wollen eine Weile still sein.

Sieh diese Rose an auf meinem Schreibtisch;

ist nicht das Licht um sie genau so zaghaft

wie über dir: sie dürfte auch nicht hier sein.

Im Garten draußen, unvermischt mit mir,

hätte sie bleiben müssen oder hingehn, –

nun währt sie so: was ist ihr mein Bewußtsein?


Erschrick nicht, wenn ich jetzt begreife, ach,

da steigt es in mir auf: ich kann nicht anders,

ich muß begreifen, und wenn ich dran stürbe.

Begreifen, daß du hier bist. Ich begreife.

Ganz wie ein Blinder rings ein Ding begreift,

fühl ich dein Los und weiß ihm keinen Namen.

Laß uns zusammen klagen, daß dich einer

aus deinem Spiegel nahm. Kannst du noch weinen?

Du kannst nicht. Deiner Tränen Kraft und Andrang

hast du verwandelt in dein reifes Anschaun

und warst dabei, jeglichen Saft in dir

so umzusetzen in ein starkes Dasein,

das steigt und kreist im Gleichgewicht und blindlings.

Da riß ein Zufall dich, dein letzter Zufall

riß dich zurück aus deinem fernsten Fortschritt

in eine Welt zurück, wo Säfte wollen.

Riß dich nicht ganz; riß nur ein Stück zuerst,

doch als um dieses Stück von Tag zu Tag

die Wirklichkeit so zunahm, daß es schwer ward,

da brauchtest du dich ganz: da gingst du hin

und brachst in Brocken dich aus dem Gesetz

mühsam heraus, weil du dich brauchtest. Da

trugst du dich ab und grubst aus deines Herzens

nachtwarmem Erdreich die noch grünen Samen,

daraus dein Tod aufkeimen sollte: deiner,

dein eigner Tod zu deinem eignen Leben.

Und aßest sie, die Körner deines Todes,

wie alle andern, aßest seine Körner,

und hattest Nachgeschmack in dir von Süße,

die du nicht meintest, hattest süße Lippen,

du: die schon innen in den Sinnen süß war.


O laß uns klagen. Weißt du, wie dein Blut

aus einem Kreisen ohnegleichen zögernd

und ungern wiederkam, da du es abriefst?

Wie es verwirrt des Leibes kleinen Kreislauf

noch einmal aufnahm; wie es voller Mißtraun

und Staunen eintrat in den Mutterkuchen

und von dem weiten Rückweg plötzlich müd war.

Du triebst es an, du stießest es nach vorn,

du zerrtest es zur Feuerstelle, wie

man eine Herde Tiere zerrt zum Opfer;

und wolltest noch, es sollte dabei froh sein.

Und du erzwangst es schließlich: es war froh

und lief herbei und gab sich hin. Dir schien,

weil du gewohnt warst an die andern Maße,

es wäre nur für eine Weile; aber

nun warst du in der Zeit, und Zeit ist lang.

Und Zeit geht hin, und Zeit nimmt zu, und Zeit

ist wie ein Rückfall einer langen Krankheit.


Wie war dein Leben kurz, wenn du’s vergleichst

mit jenen Stunden, da du saßest und

die vielen Kräfte deiner vielen Zukunft

schweigend herabbogst zu dem neuen Kindkeim,

der wieder Schicksal war. O wehe Arbeit.

O Arbeit über alle Kraft. Du tatest

sie Tag für Tag, du schlepptest dich zu ihr

und zogst den schönen Einschlag aus dem Webstuhl

und brauchtest alle deine Fäden anders.

Und endlich hattest du noch Mut zum Fest.


Denn da’s getan war, wolltest du belohnt sein,

wie Kinder, wenn sie bittersüßen Tee

getrunken haben, der vielleicht gesund macht.

So lohntest du dich: denn von jedem andern

warst du zu weit, auch jetzt noch; keiner hätte

ausdenken können, welcher Lohn dir wohltut.

Du wußtest es. Du saßest auf im Kindbett,

und vor dir stand ein Spiegel, der dir alles

ganz wiedergab. Nun war das alles Du

und ganz davor, und drinnen war nur Täuschung,

die schöne Täuschung jeder Frau, die gern

Schmuck umnimmt und das Haar kämmt und verändert.


So starbst du, wie die Frauen früher starben,

altmodisch starbst du in dem warmen Hause

den Tod der Wöchnerinnen, welche wieder

sich schließen wollen und es nicht mehr können,

weil jenes Dunkel, das sie mitgebaren,

noch einmal wiederkommt und drängt und eintritt.


Ob man nicht dennoch hätte Klagefrauen

auftreiben müssen? Weiber, welche weinen

für Geld, und die man so bezahlen kann,

daß sie die Nacht durch heulen, wenn es still wird.

Gebräuche her! wir haben nicht genug

Gebräuche. Alles geht und wird verredet.

So mußt du kommen, tot, und hier mit mir

Klagen nachholen. Hörst du, daß ich klage?

Ich möchte meine Stimme wie ein Tuch

hinwerfen über deines Todes Scherben

und zerrn an ihr, bis sie in Fetzen geht,

und alles, was ich sage, müßte so

zerlumpt in dieser Stimme gehn und frieren;

blieb es beim Klagen. Doch jetzt klag ich an:

den Einen nicht, der dich aus dir zurückzog,

(ich find ihn nicht heraus, er ist wie alle)

doch alle klag ich in ihm an: den Mann.


Wenn irgendwo ein Kindgewesensein

tief in mir aufsteigt, das ich noch nicht kenne,

vielleicht das reinste Kindsein meiner Kindheit:

ich wills nicht wissen. Einen Engel will

ich daraus bilden ohne hinzusehn

und will ihn werfen in die erste Reihe schreiender

Engel, welche Gott erinnern.


Denn dieses Leiden dauert schon zu lang,

und keiner kanns; es ist zu schwer für uns,

das wirre Leiden von der falschen Liebe,

die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit,

ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht.

Wo ist ein Mann, der Recht hat auf Besitz?

Wer kann besitzen, was sich selbst nicht hält,

was sich von Zeit zu Zeit nur selig auffängt

und wieder hinwirft wie ein Kind den Ball.

Sowenig wie der Feldherr eine Nike

festhalten kann am Vorderbug des Schiffes,

wenn das geheime Leichtsein ihrer Gottheit

sie plötzlich weghebt in den hellen Meerwind:

so wenig kann einer von uns die Frau

anrufen, die uns nicht mehr sieht und die

auf einem schmalen Streifen ihres Daseins

wie durch ein Wunder fortgeht, ohne Unfall:

er hätte denn Beruf und Lust zur Schuld.


Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:

die Freiheit eines Lieben nicht vermehren

um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.

Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies:

einander lassen; denn daß wir uns halten,

das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.


Bist du noch da? In welcher Ecke bist du? –

Du hast so viel gewußt von alledem

und hast so viel gekonnt, da du so hingingst

für alles offen, wie ein Tag, der anbricht.

Die Frauen leiden: lieben heißt allein sein,

und Künstler ahnen manchmal in der Arbeit,

daß sie verwandeln müssen, wo sie lieben.

Beides begannst du; beides ist in Dem,

was jetzt ein Ruhm entstellt, der es dir fortnimmt.

Ach du warst weit von jedem Ruhm. Du warst

unscheinbar; hattest leise deine Schönheit

hineingenommen, wie man eine Fahne

einzieht am grauen Morgen eines Werktags,

und wolltest nichts, als eine lange Arbeit, –

die nicht getan ist: dennoch nicht getan.


Wenn du noch da bist, wenn in diesem Dunkel

noch eine Stelle ist, an der dein Geist

empfindlich mitschwingt auf den flachen Schallwelln,

die eine Stimme, einsam in der Nacht,

aufregt in eines hohen Zimmers Strömung:

So hör mich: Hilf mir. Sieh, wir gleiten so,

nicht wissend wann, zurück aus unserm Fortschritt

in irgendwas, was wir nicht meinen; drin

wir uns verfangen wie in einem Traum

und drin wir sterben, ohne zu erwachen.

Keiner ist weiter. Jedem, der sein Blut

hinaufhob in ein Werk, das lange wird,

kann es geschehen, daß ers nicht mehr hochhält

und daß es geht nach seiner Schwere, wertlos.

Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft

zwischen dem Leben und der großen Arbeit.

Daß ich sie einseh und sie sage: hilf mir.


Komm nicht zurück. Wenn du’s erträgst, so sei

tot bei den Toten. Tote sind beschäftigt.

Doch hilf mir so, daß es dich nicht zerstreut,

wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir.

 

Rainer Maria Rilke: Requiem. Für eine Freundin (1908)

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