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Frank Wedekind: Das arme Mädchen

Frank Wedekind

(1864-1918)

Das arme Mädchen

 

Böt mir einer, was er wollte,

Weil ich arm und elend bin,

Nie, und wenn ich sterben sollte,

Gäb ich meine Ehre hin!

Schaudernd eilt das Mädchen weiter,

Ohne Obdach, ohne Brot,

Das Entsetzen ihr Begleiter,

Ihre Zuversicht der Tod.

Es klappert in den Laternen

Des Winters eisig Wehn,

Am Himmel ist von den Sternen

Kein einziger zu sehn.

Wie sie nun noch eine Strecke

Weiter irrt, sieht sie von fern

An der nächsten Straßenecke

Einen ernsten, jungen Herrn.

Ihm zu Füßen auf die Steine

Bricht sie ohne einen Laut,

Hält umklammert seine Beine,

Und der Herr verwundert schaut:

»Wenn dich die Menschen verlassen,

Komm auf mein Zimmer mit mir;

Jetzt tobt in allen Gassen

Nur wilde Begier.«

Und sie folgte seinen Schritten,

Hielt sich schüchtern hinter ihm;

Jener hat es auch gelitten,

Wurde weiter nicht intim.

Angelangt auf seinem Zimmer

Zündet er die Lampe an,

Bei des Lichtes mildem Schimmer

Bald sich ein Gespräch entspann:

»Es boten mir wohl viele

Ein Obdach für die Nacht,

Doch hatten sie zum Ziele,

Was mich erschaudern macht.«

»Ferne sei mir das Verlangen«,

Sprach der ernste, junge Mann,

»Dir zu färben deine Wangen,

Wenn ich’s nicht durch Güte kann.«

Bat sie, länger nicht zu weinen,

Holte Wurst und kochte Tee,

Und am Morgen zog er einen

Taler aus dem Portemonnaie.

Sie hat ihn bescheiden genommen

Und fand, eh der Tag vorbei,

Als Plätterin Unterkommen

In einer Wäscherei.

Aber ach, die Tage gingen

Und die Nächte freudlos hin,

Bluteswallungen umfingen

Ihren frommen Kindersinn.

Immer mußt sie sein gedenken,

Der so freundlich zu ihr war,

Immer mußt den Kopf sie senken

In der muntern Mädchenschar.

Und eines Abends um neune

Hielt sie’s nicht aus,

Lief ganz alleine

Nach seinem Haus.

Er war noch nicht heimgekommen,

Sie verkroch sich unters Bett,

Bis sie seinen Schritt vernommen,

Wo sie gern gejubelt hätt.

Doch sie hielt sich still da unten,

Bis er sich zu Bett gelegt

Und den süßen Schlaf gefunden,

Dann erst hat sie sich geregt.

Leise wie eine Elfe

Schlupft sie zu ihm hinein:

»Daß Gott mir helfe –

Ich bin dein!«

Doch da hat er sich erhoben,

Wußte erst nicht, was geschah,

Hat die Kissen vorgeschoben,

Als das Kind er nackend sah:

»Nein, jetzt will ich dich nicht haben;

Wohl dir, daß du mir vertraut!

Aber spare deine Gaben,

Denn schon morgen bist du Braut!«

Er führte binnen acht Tagen

Sie wirklich zum Altar.

Es läßt sich gar nicht sagen,

Wie glücklich sie war.

 

Frank Wedekind poetry

kempis.nl poetry magazine

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