Edith Södergran: Die Sehnsucht der Farben
Edith Södergran
(1892-1923)
Die Sehnsucht der Farben
Um meiner eigenen Blässe Willen liebe ich rot, blau und gelb,
das große Weiß ist wehmütig wie die Schneedämmerung
als Schneewittchens Mutter am Fenster saß und sich Schwarz und Rot dazuwünschte.
Die Sehnsucht der Farben ist die des Blutes. Wenn du nach Schönheit dürstest
sollst du die Augen schließen und in dein eigenes Herz blicken.
Doch fürchtet die Schönheit den Tag und allzuviele Blicke,
doch duldet die Schönheit nicht Lärm und allzuviele Bewegungen –
du sollst nicht dein Herz zu deinen Lippen führen,
wir sollen nicht stören des Schweigens und der Einsamkeit vornehme Kreise, –
Wem ist es größer zu begegnen als einem ungelösten Rätsel mit seltsamen Zügen?
Eine Schweigende werde ich sein in meinem ganzen Leben,
eine Redende ist wie der plappernde Bach, der sich selbst verrät;
ein einsamer Baum werde ich sein in der Ebene,
die Bäume im Wald vergehen vor Sehnsucht nach Sturm,
ich werde gesund sein von Kopf bis Fuß mit goldenen Streifen im Blut,
ich werde rein und unschuldig sein wie eine Flamme mit züngelnden Lippen.
Edith Södergran poetry
fleursdumal.nl magazine
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