RAINER MARIA RILKE: Die Kathedrale
Rainer Maria Rilke
(1875 – 1926)
Die Kathedrale
In jenen kleinen Städten, wo herum
die alten Häuser wie ein Jahrmarkt hocken
der sie bemerkt hat plötzlich und, erschrocken,
die Buden zumacht und, ganz zu und stumm,
die Schreier still, die Trommel angehalten,
zu ihr hinaufhorcht aufgeregten Ohrs –
dieweil sie ruhig immer in dem alten
Faltenmantel ihrer Contreforts
dasteht und von den Häusern gar nicht weiß:
in jenen kleinen Städten kannst du sehn,
wie sehr entwachsen ihrem Umgangskreis
die Kathedralen waren. Ihr Erstehn
ging über alles fort, so wie den Blick
des eignen Lebens viel zu große Nähe
fortwährend übersteigt, und als geschähe
nichts anderes; als wäre Das Geschick,
was sich in ihnen aufhäuft ohne Maßen,
versteinert und zum Dauernden bestimmt,
nicht Das, was unten in den dunkeln Straßen
vom Zufall irgendwelche Namen nimmt
und darin geht, wie Kinder Grün und Rot
und was der Krämer hat als Schürze tragen.
Da war Geburt in diesen Unterlagen,
und Kraft und Andrang war in diesem Ragen
und Liebe überall wie Wein und Brot,
und die Portale voller Liebesklagen.
Das Leben zögerte im Stundenschlagen,
und in den Türmen, welche voll Entsagen
auf einmal nicht mehr stiegen, war der Tod.
Rainer Maria Rilke Gedichte
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