Heinrich Heine: Die Wallfahrt nach Kevlaar
H e i n r i c h H e i n e
(1797-1856)
Die Wallfahrt nach Kevlaar
1
Am Fenster stand die Mutter,
Im Bette lag der Sohn.
"Willst du nicht aufstehn, Wilhelm,
Zu schaun die Prozession?"
"Ich bin so krank, o Mutter,
Dass ich nicht hoer und seh;
Ich denk an das tote Gretchen,
Da tut das Herz mir weh." —
"Steh auf, wir wollen nach Kevlaar,
Nimm Buch und Rosenkranz;
Die Mutter Gottes heilt dir
Dein krankes Herze ganz."
Es flattern die Kirchenfahnen,
Es singt im Kirchenton;
Das ist zu Koellen am Rheine,
Da geht die Prozession.
Die Mutter folgt der Menge,
Den Sohn, den fuehret sie,
Sie singen beide im Chore:
Gelobt seist du, Marie!
2
Die Mutter Gottes zu Kevlaar
Traegt heut ihr bestes Kleid;
Heut hat sie viel zu schaffen,
Es kommen viel kranke Leut.
Die kranken Leute bringen
Ihr dar, als Opferspend,
Aus Wachs gebildete Glieder,
Viel waechserne Fuess und Haend.
Und wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund;
Und wer einen Wachsfuss opfert,
Dem wird der Fuss gesund.
Nach Kevlaar ging mancher auf Kruecken,
Der jetzo tanzt auf dem Seil,
Gar mancher spielt jetzt die Bratsche,
Dem dort kein Finger war heil.
Die Mutter nahm ein Wachslicht,
Und bildete draus ein Herz.
"Bring das der Mutter Gottes,
Dann heilt sie deinen Schmerz."
Der Sohn nahm seufzend das Wachsherz,
Ging seufzend zum Heiligenbild;
Die Traene quillt aus dem Auge,
Das Wort aus dem Herzen quillt:
"Du Hochgebenedeite,
Du reine Gottesmagd,
Du Koenigin des Himmels,
Dir sei mein Leid geklagt!
"Ich wohnte mit meiner Mutter
Zu Koellen in der Stadt,
Der Stadt, die viele hundert
Kapellen und Kirchen hat.
"Und neben uns wohnte Gretchen,
Doch die ist tot jetzund —
Marie, dir bring ich ein Wachsherz,
Heil du meine Herzenswund.
"Heil du mein krankes Herze —
Ich will auch spaet und frueh
Inbruenstiglich beten und singen:
Gelobt seist du, Marie!"
3
Der kranke Sohn und die Mutter,
Die schliefen im Kaemmerlein;
Da kam die Mutter Gottes
Ganz leise geschritten herein.
Sie beugte sich ueber den Kranken
Und legte ihre Hand
Ganz leise auf sein Herze,
Und laechelte mild und schwand.
Die Mutter schaut alles im Traume
Und hat noch mehr geschaut;
Sie erwachte aus dem Schlummer,
Die Hunde bellten so laut.
Da lag dahingestrecket
Ihr Sohn, und der war tot;
Es spielt auf den bleichen Wangen
Das lichte Morgenrot.
Die Mutter faltet die Haende,
Ihr war, sie wusste nicht wie;
Andaechtig sang sie leise:
Gelobt seist du, Marie!
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